Blickrichtungen – Zum Gemälde „Urteil des Paris / Badende auf Fehmarn“ von Ernst Ludwig Kirchner

Ende 1911 zieht Ernst Ludwig Kirchner, Mitbegründer der Künstlervereinigung Die Brücke, vom beschaulichen Dresden ins pulsierende Berlin. Wenige Monate später lernt er die Schwestern Erna und Gerda Schilling kennen, die in einem Nachtklub als Tänzerinnen auftreten. Sie werden bis Ausbruch des Ersten Weltkriegs seine favorisierten Modelle. Nachdem er zunächst eine Liaison mit Gerda hat, ist es schließlich Erna, mit der er bis zu seinem Freitod in Davos 1938 sein Leben teilt.

Während der Berliner Jahre finden sich die langgestreckten Gliedmaße und kantigen Körperformen der beiden Schwestern in zahlreichen Werken Kirchners wieder – von flüchtigen Skizzen bis hin zu den ausgefeilten Kompositionen der berühmten Straßenszenen. Später schreibt er über ihren Einfluss auf seinen Stil:
„Die Gestaltung des Menschen wurde durch meine dritte Frau, eine Berlinerin, die von nun an mein Leben teilte, und deren Schwester stark beeinflusst. Die schönen architektonisch aufgebauten Körper dieser beiden Mädchen lösten die weichen sächsischen Körper ab. In tausenden von Zeichnungen, Graphiken und Bildern erziehen diese Körper mein Schönheitsempfinden zur Gestaltung der körperlich schönen Frauen unserer Zeit.“

Kirchner beide

Ernst Ludwig Kirchner, „Urteil des Paris“ (Rückseite: „Badende auf Fehmarn“), 1913, Öl auf Leinwand, 113 × 91,5 cm

Erna und Gerda Schilling stehen auch im Mittelpunkt des Gemäldes „Urteil des Paris“, das vermutlich 1913 entstand und eine Szene in Kirchners Atelier in der Körnerstraße 45 zeigt. Gerda ist links und ein weiteres Mal in der Mitte zu sehen – erkennbar an ihren Haaren, die sie links bürstet und in der Mitte zu den für sie charakteristischen Schnecken über den Ohren aufrollt. Rechts von ihr steht Erna, mit Pagenkopf und Pony ebenfalls unverkennbar. Auf der Rückseite der Leinwand befindet sich ein weiteres Gemälde, das Kirchner während eines Sommeraufenthalts auf der Ostseeinsel Fehmarn malt. Die Aktdarstellung von fünf Personen an einem Strandfelsen ist wie die Vorderseite von harten Schraffuren, spitzen Formen und gedeckten Farben bestimmt. Offenkundig verwirft Kirchner dieses Motiv nach seiner Rückkehr nach Berlin, da er die Rückseite für ein weiteres, kunsthistorisch letztlich bedeutsameres Gemälde verwendet. Allerdings verzichtet er darauf, den Werktitel des „Urteil des Paris“ wie im Fall anderer doppelseitig bemalter Leinwände quer über die Fehmarn-Ansicht zu setzen.

Während die Form- und Farbgebung beider Gemäldeseiten mit Kirchners kurz vor dem Ersten Weltkrieg entstandenen Werken korrespondieren und Akte zu seinen gängigsten Motiven gehören, nimmt das „Urteil des Paris“ innerhalb seines Œuvres durch den Bezug zur griechischen Mythologie eine besondere Stellung ein. Kirchner bietet hier eine sehr persönliche Interpretation jenes mythischen Epos, in dem Zeus den Jüngling Paris anweist unter den drei Göttinnen Hera, Athena und Aphrodite die Schönste zu wählen. Paris entscheidet sich für Aphrodite, die ihm ihrerseits die Liebe Helenas, der schönsten Frau, verspricht. Von Sandro Botticelli über Paul Cézanne bis hin zu Kirchner taucht das „Urteil des Paris“ häufig als Motiv der bildenden Kunst auf. Im Vergleich zu den kunsthistorischen Vorbildern variiert der Expressionist jedoch die Darstellung. So holt er den Mythos in den privaten Rahmen seines Ateliers, wo er sich selbst als im Hintergrund stehender, lässig rauchender Paris inszeniert. Zudem preisen sich ihm die Frauen nicht an, vielmehr wenden sie sich selbstbewusst ab und den Betrachtern des Gemäldes zu. Kirchner legt damit das Urteil in unsere Hand und macht sich dabei in der Beobachtung zum Beobachteten. Wenngleich der Künstler in seinen Schriften gerne auf die naive Natürlichkeit seiner Motive hinweist, so deutet er im „Urteil des Paris“ doch den komplexen kunsthistorischen und -theoretischen Bezugsrahmen seines künstlerischen Schaffens an.

Die inhaltliche und formale Vielschichtigkeit macht das Gemälde nicht nur zu einem Schlüsselwerk in Kirchners Œuvre, sondern auch in der Sammlung des Wilhelm-Hack-Museums. Gemeinsam mit weiteren Werken Kirchners lässt sich hier seine künstlerische Entwicklung von den Dresdner Jahren über die Berliner Episode bis in die Davoser Zeit veranschaulichen. Zudem konzentrieren sich im „Urteil des Paris“ wie in den „Badenden von Fehmarn“ zahlreiche thematische Fäden, die in Korrespondenz zu Werken von Erich Heckel, Max Pechstein, Otto Mueller, Karl Schmidt-Rottluff, August Macke, Emil Nolde, Christian Rohlfs, George Grosz und anderen in der Sammlung befindlichen Werken der 1910er- und 1920er-Jahre stehen.

Bedeutung

Das „Urteil des Paris“ (1913) gehört mit anderen Werken aus der Zeit in Berlin wie „Die Straße“ (1913, Museum of Modern Art, New York), der ebenfalls aus der Sammlung Hess stammende und 2006 vom Land Berlin restituierte „Berliner Straßenszene“ (1913) und nicht zuletzt auch dem Bild „Potsdamer Platz“ (1914, Staatliche Museen zu Berlin, Neue Nationalgalerie) zu den Hauptwerken Ernst Ludwig Kirchners. Das „Urteil des Paris“ sticht gerade deshalb als ein herausragendes Gemälde heraus, weil es doppelseitig bemalt ist: Die Rückseite zeigt fünf Badende auf Fehmarn, wo Kirchner in dieser Zeit die Sommer verbrachte. Der Szene in der Großstadtwohnung steht so die Szene in der freien Natur gegenüber.

Das „Urteil des Paris“ hat so nicht nur für das Wilhelm-Hack-Museum in Ludwigshafen, sondern auch für Rheinland-Pfalz und die Kunstgeschichte in Deutschland eine große Bedeutung. Ludwigshafens ehemalige Oberbürgermeisterin Dr. Eva Lohse und Kulturdezernentin Prof. Dr. Cornelia Reifenberg wandten sich im Sinne der Aktion „Erna soll bleiben! Spendet für Kirchner“ an die Öffentlichkeit: „Helfen Sie mit und unterstützen Sie uns dabei, dass das ‚Urteil des Paris‘ der Sammlung des Wilhelm-Hack-Museums und der Stadt Ludwigshafen erhalten bleibt“.


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